Am Freitag, den 20. Juni 2025, versammelten sich rund 40 Akteur*innen aus Zivilgesellschaft, Verwaltung, migrantischen Selbstorganisationen (MSO) und engagierte Einzelpersonen im historischen Rathaus der Hansestadt Stralsund, um im Rahmen der Regionalen Dialogkonferenz Mecklenburg-Vorpommern zentrale Fragen zur lokalen Geflüchtetenarbeit zu diskutieren. Die Konferenz stand unter dem Motto „krisenfest und demokratisch: Vernetzungskonferenz 2025“ und wurde im Rahmen des bundesweiten Projekts GLEICH teilhaben vom Bundesverband NeMO durchgeführt – vor Ort koordiniert durch Tutmonde e.V. in Kooperation mit der Migrations- und Integrationsbeauftragten der Hansestadt Stralsund und der Integrationsbeauftragten des Landes Mecklenburg-Vorpommern.
Begrüßung und Auftakt
Nach einem informellen Ankommen begrüßten um 10:30 Uhr Prof.in Christine Krüger, Vorständin von Tutmonde e.V., und Anja Schmuck, Migrations- und Integrationsbeauftragte der Hansestadt Stralsund, die Teilnehmenden. Beide hoben in ihren Worten die Bedeutung nachhaltiger lokaler Strukturen in der Geflüchtetenarbeit hervor – insbesondere mit Blick auf sozial besonders verletzliche Gruppen. Sie machten deutlich: Chancengerechtigkeit beginnt vor Ort und gelingt nur durch langfristige Zusammenarbeit auf Augenhöhe.
„Für Stralsund ist die lokale Arbeit von Tutmonde nicht wegzudenken, wir hoffen, dass der Bundesverband NeMO die Stelle weiterhin fördern wird“, so Anja Schmuck, Migrations- und Integrationsbeauftragte von Stralsund.
Jana Michael, die Integrationsbeauftragte der Landesregierung Mecklenburg-Vorpommern sprach aus der Landesperspektive über die Wichtigkeit der lokalen Geflüchtetenarbeit vor Ort. Als Gründerin von Tutmonde e.V. und langjährige Koordinatorin hob sie die empowernden Aspekte hervor: die langjährige erfolgreiche Zusammenarbeit und Vernetzung im Bundesverband auch über das vorangegangene Projekt samo.fa mit der nunmehr insgesamt 8. Vernetzungskonferenz.

Drei der aktiven Menschen der Region (v. l. n. r.): Prof.in Christine Krüger, Vorständin von Tutmonde e.V., Jana Michael, Integrationsbeauftragte der Landesregierung Mecklenburg-Vorpommern und Flavia Schulz, Koordinatorin von GLEICH teilhaben in Stralsund.
Fachinput: Haltung zeigen in schwierigen Zeiten
Den ersten inhaltlichen Impuls der Regionalen Dialogkonferenz lieferte Sabine Ziesemer, Referentin beim Flüchtlingsrat Mecklenburg-Vorpommern. In ihrem Vortrag mit dem Titel „Krisenfeste Argumentation – einfach Haltung zeigen“ sprach sie eindringlich und zugleich anschaulich über die Notwendigkeit, sich im gesellschaftlichen Diskurs klar und unmissverständlich für die Rechte von Geflüchteten einzusetzen.
Angesichts wachsender gesellschaftlicher Polarisierung und des Erstarkens rechter Narrative, so Ziesemer, sei es wichtiger denn je, eine menschenrechtsorientierte Haltung zu bewahren – sowohl im privaten als auch im beruflichen Kontext. Dabei gehe es nicht nur um politische Grundsatzentscheidungen, sondern auch um das konkrete Handeln im Alltag: Wie kann man latent fremdenfeindlichen Äußerungen begegnen? Wie kann man faktenbasiert argumentieren, ohne sich auf Provokationen einzulassen?
Mit Beispielen aus der Beratungspraxis, aktuellen Fallzahlen und anschaulichen Szenarien zeigte sie praxisnahe Strategien zur argumentativen Zivilcourage auf. Zugleich räumte sie mit gängigen Vorurteilen auf und machte anhand internationaler Vergleiche deutlich: Entgegen der verbreiteten Wahrnehmung nimmt Deutschland im europäischen Kontext vergleichsweise wenige Geflüchtete auf – lediglich etwa 2,8 Geflüchtete pro 1.000 Einwohner*innen und steht damit an Stelle 12 der Europäischen Länder.
Zum Tag der Geflüchteten, der auf den Konferenztag fiel, erinnerte Sabine Ziesemer zudem an den menschenrechtlichen Kern unserer Verfassung. Mit dem Verweis auf Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes, der nach den Erfahrungen des Nationalsozialismus geschaffen wurde, zitierte sie:
„Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“
Diese Verpflichtung, so betonte sie, gelte nicht selektiv, sondern ausnahmslos für alle Menschen – unabhängig von Herkunft, Aufenthaltsstatus oder Fluchtgeschichte. Gerade in Zeiten multipler Krisen müsse dieser Grundsatz als moralischer und rechtlicher Maßstab allen staatlichen und gesellschaftlichen Handelns dienen.
Ergänzend verwies Ziesemer auf die Genfer Flüchtlingskonvention, die weltweit das Recht von Geflüchteten auf Schutz, Leben, Freiheit und Sicherheit verankert. Die Kombination aus nationalem Grundgesetz und internationalem Flüchtlingsrecht sei, so ihre Botschaft, ein starkes Fundament – aber eben nur dann wirksam, wenn es aktiv mit Leben gefüllt werde.
Mit ihrem Beitrag setzte sie den Ton für den weiteren Verlauf der Konferenz: Die Arbeit mit Geflüchteten ist nicht nur eine soziale Aufgabe, sondern auch ein Ausdruck demokratischer Haltung und rechtstaatlicher Verantwortung.
Fokus: Unterstützung für sozial besonders verletzliche Geflüchtete
Der Hauptteil der Konferenz widmete sich der Frage, wie insbesondere vulnerable Gruppen unter den Geflüchteten – etwa alleinstehende Frauen mit Kindern, Unterstützung von ukrainischen Jugendlichen und Geflüchtete im Chancenaufenthalt – wirksam unterstützt und besser in lokale Strukturen eingebunden werden können.
Vielfältige Perspektiven aus dem Projekt „GLEICH teilhaben“ – Vier Städte, ein gemeinsames Ziel
Im ersten Hauptteil „GLEICH teilhaben: Sozial besonders verletzliche Geflüchtete unterstützen: wer, was und wie?“ wurde die Bandbreite und Tiefe der Arbeit migrantischer Selbstorganisationen in vier verschiedenen Städten Deutschlands sichtbar. Die Beiträge aus Stralsund, Dortmund, Hoyerswerda und Göttingen zeigten, wie unterschiedlich die lokalen Kontexte sind – und doch wie ähnlich die Herausforderungen und Lösungsansätze. Alle vier Standorte verbindet ein gemeinsames Ziel: die nachhaltige Unterstützung besonders verletzlicher Geflüchtetengruppen.
Stralsund: Lokale Verankerung und Empowerment durch Nähe
Den Auftakt machten Flavia Schulz (Tutmonde e.V.) und Enxhi Gurthi (ehrenamtlich aktiv) aus Stralsund. Sie präsentierten Fallbeispiele aus ihrer Arbeit mit vulnerablen Frauen und ihren Kindern in der Region Vorpommern-Rügen. In einer strukturschwachen Region mit wachsendem Rechtspopulismus bietet Tutmonde e.V. sichere Räume, Beratung, Begleitung und Empowerment – oft mit begrenzten Ressourcen, aber mit einem klaren menschenrechtsorientierten Kompass. Die lokale Verankerung und das vertrauensvolle Verhältnis zu den Familien machen Tutmonde e.V. zu einer tragenden Säule der Teilhabe- und Integrationsarbeit in der Region.
Dortmund: Schutz und Sichtbarkeit für Frauen – Schwerpunkt FGM_C
Elaine Yousef, Aktivistin beim VMDO Dortmund, und Tahara Adda, ehrenamtlich engagiert, stellten den Beitrag des VMDO mit einem Fokus auf von weiblicher Genitalbeschneidung (FGM_C) betroffene Frauen vor. In enger Kooperation mit dem Somalisch-Deutschen Verein, einem Mitgliedsverein im VMDO, werden über 100 betroffene Frauen betreut und begleitet. Der Verein bietet nicht nur psychosoziale Unterstützung, sondern auch gesundheitliche Aufklärung und Bildungsangebote – ein seltener, aber dringend benötigter Ansatz. Das Dortmunder Netzwerk zeigt, wie migrantische Selbstorganisationen durch gezielte Spezialisierung systemische Lücken schließen können und betroffenen Frauen Schutz, Sprache und Selbstbestimmung ermöglichen.
Hoyerswerda: Vernetzung und Haltung in der ostdeutschen Provinz
Birgit Radeck vom Immigrants Network e.V. Hoyerswerda brachte eine ostdeutsche Perspektive ein. In der ehemaligen Pogromstadt von 1991 hat sich viel verändert: Mit dem zivilgesellschaftlichen Bündnis „Hoyerswerda hilft mit Herz“, zahlreichen ehrenamtlich Aktiven und einem klar unterstützenden Bürgermeister Mirko Pink, der aktiv für die Aufnahme von Geflüchteten wirbt, hat sich ein tragfähiges Netzwerk etabliert. Hoyerswerda zeigt, wie aus der Erfahrung eines Traumas neue solidarische Strukturen erwachsen können. Die Arbeit dort ist ein Beispiel für langfristige Demokratisierung „von unten“ – mit dem Ziel, Fachkräfte zu gewinnen und menschlich wie wirtschaftlich Zukunft zu sichern.

Gäst*innen aus dem Projekt GLEICH teilhaben waren auch in Stralsund vertreten (v. l. n. r.): Tahara Adda, Aktive aus Dortmund, Birgit Radeck, Koordinatorin in Hoyerswerda, Flavia Schulz, Koordinatorin in Stralsund und Elaine Yousef, Koordinatorin in Dortmund.
Göttingen: Nachhaltigkeit sichern – trotz fehlender Förderung
Anna Kozyakova und Josef Wochnik von DRG e.V. Göttingen (Dialog, Respekt und Gemeinwohl) schlossen den Panelteil mit einer Beschreibung ihrer aktuellen Arbeit ab. Obwohl der Verein seit 2024 nicht mehr offiziell Teil von GLEICH teilhaben ist, führen sie ihre Projekte mit ukrainischen Geflüchteten, insbesondere mit Kindern und Jugendlichen, engagiert weiter. Trotz fehlender kommunaler Förderung und wachsender Belastung hält die DRG wichtige Angebote wie eine Hotline, intensive Hausaufgabenhilfe und Kinderbetreuung aufrecht. Sie schaffen Vertrauen, Stabilität und Teilhabe – doch die fehlende Koordination und Finanzierung bringen die Arbeit an ihre Grenzen. Der Beitrag aus Göttingen mahnt: Ohne verlässliche Förderstrukturen droht nachhaltige Integrationsarbeit zu scheitern, selbst wenn der Wille und die Kompetenz vorhanden sind.
Die vier Standorte spiegeln in ihrer Vielfalt die Kraft migrantischer Selbstorganisationen wider. Ob in West oder Ost, in Großstadt oder Kleinstadt – überall wird mit hoher fachlicher Kompetenz, lokalem Wissen und viel persönlichem Engagement daran gearbeitet, dass sozial besonders verletzliche Geflüchtete nicht übersehen werden. Die vorgestellten Initiativen machen Mut – und sie zeigen, dass demokratische Teilhabe dort gelingt, wo sie praktisch gelebt wird.

Im Stralsunder Rathaus tauschten sich verschiedene angereiste Koordinator*innen des Projekts mit dem Leitungsteam und Vertreter*innen anderer Vereine wie dem DRG e.V. Göttingen über die gemeinsame Arbeit mit vulnerablen Geflüchteten aus.
Dauerhafte Aufmerksamkeit und nachhaltige Strukturen
Im zweiten Hauptteil diskutierten Prof.in Christine Krüger und Dr. Andrés Otálvaro vom Leitungsteam des Projekts GLEICH teilhaben gemeinsam mit den Teilnehmenden, wie die Anliegen der Konferenz verstetigt und dauerhaft sichtbar gemacht werden können. Klar wurde: Damit aus kurzfristiger Projektarbeit langfristige Teilhabe wird, braucht es nicht nur Anerkennung und Wertschätzung, sondern auch strukturelle Förderung, feste Ansprechpartner*innen in der Verwaltung und den politischen Willen, migrantische Perspektiven aktiv einzubeziehen.
Positiver Ausblick: Mut und Perspektiven für die Region
Zum Abschluss der Konferenz richtete Christine Krüger, Professorin der Hochschule Neubrandenburg, einen ermutigenden Blick nach vorn. Gerade für eine strukturschwache Region wie Mecklenburg-Vorpommern, in der vielerorts ein besorgniserregender Rechtsruck zu beobachten ist, sei die Konferenz ein deutliches Signal: Demokratisches Engagement, Solidarität und menschenrechtsorientiertes Handeln sind lebendig – und sie finden hier Raum und Resonanz.
Krüger betonte, dass Projekte wie GLEICH teilhaben, die auf Vernetzung, Empowerment und politische Sichtbarkeit von migrantischen Selbstorganisationen setzen, wichtige Impulsgeber für einen langfristigen Wandel seien. Gemeinsam mit Jana Michael, der Integrationsbeauftragten des Landes Mecklenburg-Vorpommern, sowie in enger Kooperation mit dem Flüchtlingsrat MV, sei es gelungen, tragfähige Strukturen aufzubauen und konkrete Wirkungen zu erzielen.
Diese Konferenz habe einmal mehr gezeigt: Es gibt ein Potenzial für solide Weiterarbeit – auch in Regionen, in denen die Rahmenbedingungen herausfordernd sind. Die vielen guten Beispiele, der kollegiale Austausch und die Bereitschaft zur Zusammenarbeit seien Belege dafür, dass Veränderung möglich ist – wenn Menschen mit Haltung, Herz und Fachwissen gemeinsam an einem Strang ziehen.
Mit diesen Worten verabschiedete Christine Krüger aus der Dialogkonferenz – nicht mit einer bloßen Hoffnung, sondern mit dem klaren Blick auf das, was bereits entstanden ist, und dem Mut, weiterzumachen.

Gruppenbild im Innenhof des historischen Rathauses in Stralsund.
Offener Ausklang und Vernetzung
Bei einem offenen Ausklang mit Gesprächen, kleinen Snacks und informellem Austausch nutzten die Gäste die Gelegenheit, neue Kontakte zu knüpfen, Kooperationen anzustoßen und Ideen für gemeinsame Aktivitäten in der Region zu entwickeln.
Die Konferenz wurde moderiert von Birgit Schröter (freie Journalistin) und Dr. Jenny Warnecke, die mit viel Gespür für die Vielfalt der Perspektiven durch das Programm führten.
Die Regionale Dialogkonferenz in Stralsund machte deutlich: Die Arbeit mit und für Geflüchtete – insbesondere für sozial besonders verletzliche Gruppen – ist und bleibt eine dauerhafte gemeinsame Aufgabe. Sie erfordert klare Haltungen, vernetzte Akteur*innen und strukturelle Anerkennung. Die Stimmen migrantischer Selbstorganisationen müssen gehört und einbezogen werden – nicht als Ergänzung, sondern als zentraler Bestandteil einer krisenfesten und demokratischen Gesellschaft.