Diese Diskriminierungen erleben sie sowohl in ihren Herkunftsländern als auch auf den Fluchtrouten und in den Ankunftsländern. Historisch gesehen waren sie in ihren jeweiligen Herkunftsländern patriarchalen Strukturen ausgesetzt, die durch männliche Unterdrückung geprägt sind. Die Umstände von Krieg, Verfolgung und Menschenrechtsverletzungen verschärfen ihre Situation erheblich. Die Realität der Flucht führt jedoch nicht zu einer eindeutigen Verbesserung ihrer Lage; vielmehr nehmen die Gewaltstrukturen auf den Fluchtrouten und innerhalb globaler Grenzregime zu, die oft nicht humanitär auf ihre Bedürfnisse eingehen, sondern im Gegenteil deren Vulnerabilitäten und Schutzbedarfe ignorieren. Grenzregime tragen zur Verstärkung von Vulnerabilitäten sowie zur Schutzlosigkeit und Mehrfachdiskriminierung geflüchteter Frauen bei, egal ob sie mit Familien reisen, allein unterwegs sind oder alleinerziehend sind.
Ein intersektionaler Ansatz ist notwendig, um die komplexen Herausforderungen der multiplen Vulnerabilitäten und Rassismen gegen Frauen auf der Flucht besser zu verstehen und zu bekämpfen. Zivilgesellschaftliche Maßnahmen zur Unterstützung, Begleitung und Betreuung vulnerabler Frauen müssen unter einer asylschutzkonformen Logik der Solidarität entwickelt werden, um diese Aspekte angemessen zu berücksichtigen. Nur so können geflüchtete Frauen bedarfsgerecht, niedrigschwellig und nachhaltig zu ihren Rechten verholfen werden. Das Projekt GLEICH teilhaben arbeitet nach diesen Prinzipien.
Vulnerabilität ist kein ausschließlich weibliches Phänomen. Vulnerabilität kann viele Gesichter haben und ist nicht nur auf Frauen beschränkt. Die politische Produktion von Vulnerabilität sowie die strukturelle Erzeugung von Armut und die Verstärkung sozial konstruierter (geschlechtlicher) Ungleichheiten erfordern spezifische Strategien seitens der Zivilbevölkerung und anderer engagierter politischer Akteur:innen, um dem entgegenzuwirken. Die Gefahr der Normalisierung von Vulnerabilität muss durch nachhaltige Empowerment-Strategien bekämpft werden, was ein grundlegender Bestandteil der Maßnahmenprogramme von MO und ihren EA im Zusammenhang mit dem Projekt GLEICH teilhaben ist.
Ein Meilenstein des Projektes war die gelungene Einbindung geflüchteter Frauen an den unterschiedlichen Austauschveranstaltungen (z.B. den Lokalen Dialogkonferenzen), bei denen sie tatsächlich „zu Wort“ gekommen sind. Das ist besonders hervorzuheben, da geflüchtete Frauen mit Gewalterfahrung, oft nicht für sich mit konkreten Bedarfen, Emotionen und Gefühlen sprechen können. Dies war im Rahmen des Projekts weitgehend möglich, basierend auf einer Vertrauensatmosphäre, Niedrigschwelligkeit und mehrsprachiger Übersetzung. Im Folgenden werden die Bedarfslagen und konkret umgesetzte Maßnahmen an drei Standorten zur Unterstützung vulnerabler Frauen unter den Geflüchteten beschrieben (Hannover, Dortmund und Freiburg).
Hannover
Die Zielgruppe an diesem Standort sind alleinerziehende, alleinreisende Frauen mit ihren Kindern und Jugendlichen. Ein afghanischer Frauenkreis wird an diesem Standort besonders unterstützt. Die Frauen treffen sich zweimal pro Woche und tauschen sich dort wertvoll über verschiedene Themen wie Sprachkurse, Rechtsberatung, Wohnen und Bildung aus. Darüber hinaus haben die Koordinatorinnen des Projekts mit vier Geflüchtetenunterkünften gearbeitet, in denen viele Frauen im Zeitraum 2023-2024 untergebracht wurden. Strukturelle Gewalt, wie z. B. Menschenhandel, hat viele dieser Frauen in ihrer Fluchtbiographie betroffen. Dort konzentrierten sich die Angebote von GLEICH teilhaben auf Empowerment-Workshops, die von den EA des Projekts und den geflüchteten Frauen selbst durchgeführt wurden. So berichten die Koordinatorinnen, dass es besonders dramatisch ist, dass viele der betroffenen Frauen sich ihrer eigenen Rechte in Deutschland nicht bewusst sind. In diesem Zusammenhang haben die Workshops und weiteren Informationsveranstaltungen diesen Frauen zu ihren eigenen Rechten verholfen.
Im Jahr 2024 wurde ein neuer Akzent in Hannover auf die Zielgruppe FLINTA* (Frauen, Lesben, inter*, nicht-binäre, trans* und agender Personen) gesetzt. Somit wurden die Handlungsbereiche Queerness und Frauenempowerment unter den Geflüchteten aus einer intersektionalen Perspektive intensiviert. In Zusammenarbeit mit dem ADV-Nord e.V. (Afrikanischer Dachverband Norddeutschland) und Prisma Queer e.V. fanden Schulungen zur Aufklärung und Sensibilisierung der Situation von Geflüchteten statt, die sich selbst als FLINTA* und LGBTQIA+ identifizieren und systematische Unterdrückung erfahren. Ein abschließender Think Tank erarbeitete Maßnahmen und Strategien, um diese vulnerable Zielgruppe vor Ort und in ihren Heimatländern zu unterstützen.
Die Dialogkonferenz 2023 in Hannover fand unter dem Titel „Wir schaffen eine gemeinsame weibliche Stimme“ statt. Bahnbrechend bei der Konzeption, Organisation und Durchführung der Veranstaltung war die direkte Partizipation von Frauen mit Gewalterfahrung, die im Rahmen eines Safe Spaces mit anderen geflüchteten Frauen, EA und involvierten Akteur:innen Strategien zur gemeinsamen Selbstermächtigung mitgestaltet haben. Grundlage waren die Stimmen der Frauen, die während der Konferenz im Mittelpunkt standen und Gehör fanden. Politisch-solidarische weibliche Stimmen zur aktivistischen Unterstützung von Frauen in Palästina wurden ebenfalls während der Konferenz durch eine Fotoausstellung präsentiert.
Ein weiterer Schwerpunkt der Konferenz war der ehrenamtliche Beitrag im Kontext des Kreises afghanischer Frauen. Dabei berichteten ehrenamtliche Frauen mit eigener Fluchtgeschichte über ihre psychosozialen Gewalterfahrungen während des langen Ankommensprozesses in Deutschland. Somit wurde eine „gemeinsame weibliche Stimme“ klar und deutlich im Sinne des Titels der Konferenz ausgedrückt: „Viele Frauen möchten ihre Stimmen erheben, können es aber möglicherweise nicht aufgrund bestimmter Begebenheiten. Deswegen war es sehr wichtig, dass geflüchtete Frauen bei der Konferenz im Vertrauen und mit mehrsprachiger Übersetzung ihre Bedarfe, Probleme und Emotionen äußern konnten. Aus ihrem Ankommensprozess zogen die Frauen Stärke. Während und nach der Dialogkonferenz spürte man ein extremes Empowerment,“ kommentierte die Koordinatorin Luna Mokris im Jahr 2023.
Die Kommune und verschiedene migrantische Organisationen tauschten sich bei der Veranstaltung intensiv aus, und nach der Konferenz fanden Vernetzungstreffen zur Vertiefung nachhaltiger Unterstützungs- und Lösungsmöglichkeiten mit der Zielgruppe statt.
Dortmund und Freiburg
Eine wichtige Gruppe von schwarzen Frauen, die über das Mittelmeer nach Europa geflohen sind, wurde im Rahmen von GLEICH teilhaben in Dortmund und Feiburg im Zeitraum 2023-2024 unterstützt. Es handelt sich hierbei um mehrere schwer traumatisierte Frauen, die zahlreiche Etappen von Gewalt und Vulnerabilisierung auf der Fluchtroute durchlaufen mussten: unerträgliche Lebensverhältnisse in ihren Herkunftsländern, die Überfahrt über das Mittelmeer, lange Aufenthaltsdauer in Libyen mit Erfahrungen sexueller Gewalt, Zwangsprostitution, Sklaverei und Erpressung. In Libyen verbringen manche Frauen viele Jahre damit, Geld für die weitere Reise nach Europa zu verdienen. Viele von ihnen bringen auch Kinder mit. Sie werden häufig durch Vergewaltigung schwanger.
In Dortmund wurden Gruppen von somalischen und arabischen Frauen (aus Syrien, Irak, Libanon, Ägypten und Jemen) von der Koordinierungsstelle und den Ehrenamtlichen betreut und begleitet. Die Zielgruppe ist vorwiegend von häuslicher und sexualisierter Gewalt betroffen. Die somalischen Frauen haben unter anderem das Thema weibliche Genitalbeschneidung (FGM_C). Die Schaffung vertrauter Umgebungen als Safe Spaces sowie interkulturelle Begegnungsräume war von Anfang an eine Priorität des Dortmunder Standortes; dort können sich die Frauen wohlfühlen und offen über ihre Probleme sprechen. Schwierigkeiten, die das Projekt zur Erreichbarkeit der Zielgruppe überwinden musste, waren beispielsweise Sprachbarrieren bzw. Analphabetismus. Die Reproduktion gewaltsamer Trennungen der Geschlechterrollen zu Hause stellte ebenfalls ein Problem dar, worüber die Koordinatorin berichtete, da Männer die Frauentreffen und weiteren Aktivitäten im Programm als negativ wahrnahmen und ihren Frauen den Besuch solcher Kurse nicht nur missbilligten, sondern sogar verbaten. Eine Reihe von Workshops und Männertreffen wurde diesbezüglich umgesetzt, um freiwillig interessierten Männern eine Diskussion über die Rolle und Verantwortung von Männern innerhalb der Familie anzubieten.
Viele Schwarze Frauen erreichten 2023 die Koordinierungsstelle von GLEICH teilhaben in Freiburg, dank der Kooperation mit der Frauenklinik, wo Ärzt:innen und Spezialist:innen mit Erfahrung in Trauma, Flucht sowie Genitalbeschneidung/Wiederherstellung tätig sind. Dies war eine erste Zielgruppe vulnerabler Frauen mit spezifischen Bedarfen. Die zweite Gruppe bestand aus geflüchteten Frauen aus der Ukraine, die eine hervorragende Selbstorganisation gezeigt haben, indem sie ihre eigenen Maßnahmen mit Unterstützung der GLEICH-Koordinatorin und Ehrenamtlichen auf die Beine stellten. Die LSBTIQ*-Community wurde ebenfalls als eine weitere Zielgruppe bedarfsgerecht unterstützt. Frauen mit Flucht und Behinderung stellen zusätzliche Herausforderungen dar, die ebenfalls am Standort adressiert wurden.
Zur Erreichbarkeit der Zielgruppen wurden kreative, niedrigschwellige und mehrsprachige Formate von den Koordinierungsstellen entwickelt. Im Falle Freiburg wurden Flyer mit vereinfachter visueller Sprache zur Erreichung analphabetischer Frauen erstellt. Analphabetismus war ein verbreitetes Problem unter der Zielgruppe. Die vereinfachte Sprache beinhaltete grundlegende Informationen über die Adresse der Organisation sowie weitere Zeichen und Symbole zu Gesundheit, Beschneidung und Versorgung. Diese Mechanismen der Visualisierung wurden an andere Kooperationsinstitutionen wie die Uniklinik zur künftigen Nutzung und Perfektionierung weitergeleitet. Darüber hinaus spielen Sprachnachrichten über soziale Medien eine wesentliche Rolle angesichts des Mangels an Alphabetismus. Vertrauenspersonen aus den jeweiligen Communities sind in diesem Zusammenhang unabdingbar für die Erreichbarkeit der Zielgruppe.
Der Aufbau eines lokalen Unterstützungsnetzwerks zwischen dem Uniklinikum und der migrantischen Koordination des Projekts hat sich als sehr erfolgreich erwiesen. Zu diesem Unterstützungssystem haben andere fachlich spezialisierte Institutionen wie Medinetz (medizinische Versorgung für illegalisierte Geflüchtete) und weitere psychosoziale Zentren fortdauernd beigetragen. In Zusammenarbeit mit der Kommune durch das Amt für Migration und Integration sowie anderen Gremien, z. B. für Wohnen und Arbeit, wurde das Unterstützungssystem ebenfalls gestärkt. In diesem Zusammenhang entwickelten sich regelmäßige Vernetzungstreffen, die sich als unerlässlich für eine umfassende und effiziente Koordination auf lokaler kommunaler Ebene erwiesen haben.
Forderungen an die Migrationsgesellschaft aus den Erfahrungen und Stimmen der Koordinatorinnen im Projekt:
- Keine Akzeptanz von Diskriminierung und Rassismus im Alltag gegen Frauen, z.B. aufgrund von Kopftuch oder Kreuztragen.
- Gelungenes Ankommen bedeutet für Frauen, sich wohlzufühlen, ohne Angst und Unterdrückung unter patriarchalen Verhältnissen.
- Das Hauptthema ist Solidarität und Augenhöhe mit geflüchteten Frauen – alle haben das Recht, GLEICH teilzuhaben, wie es das Projekt klar und deutlich fordert.
- Sexismus zu bekämpfen ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe – geflüchtete Frauen bringen eine große Belastung durch sexuelle Gewalt und Sexismus mit sich. In diesem Rahmen müssen Frauen als Expertinnen wahrgenommen und adressiert werden.
- Geflüchtete Frauen müssen mehr Sichtbarkeit und Gehör in der Migrationsgesellschaft erhalten.
- Feminismus muss mit der Beteiligung geflüchteter Frauen intersektionell, antikapitalistisch und antimilitaristisch weitergeführt werden.
- Verstärkte Strukturen und Praktiken der Aufmerksamkeit, Unterstützung und des Empowerments für vulnerable geflüchtete Frauen sind notwendig.
Andrés Otalvaro, 02.11.24